Nutzer und Betrachter gehen in der Regel nicht davon aus, dass sie selbst in einer Wechselbeziehung mit der Architektur-Raum-Wirkung stehen. Planer, die in gewisser Weise sehr wohl davon ausgehen, dass Architektur u.a. Emotionen erzeugt, versuchen diese Aufgabe vom Äußeren – der Form und den Materialien- her zu erfüllen.
Doch in der Architektur muss sich ausdrücken, was Menschen fördert, was sie zur Entfaltung bringt, sie zum Lachen bringt. Sie muss also unbedingt vom Inneren her betrachtet werden. Goethe verlangte von einem schönen Gebäude, dass selbst ein Mensch, dem die Augen verbunden werden, die Schönheit des Raumes empfinden müsste.
Doch auf das Wesenhafte, das unsichtbare Wirken von Raum und Architektur liegt keine Aufmerksamkeit mehr. Es wird schon lange nicht mehr betrachtet.
Das Ergebnis ist eine Entfremdung von Mensch und Architektur und ein vergessenes Bewusstsein über die Wirkung von Architektur.
Vielleicht ist diese Entwicklung in der Modernen Architektur zu begründen? In deren Anfangsphase, die Zeit des Expressionismus und Futurismus, wurde jede Verbindung zur Vergangenheit abgelehnt. Diese Richtung galt als Protest gegen sämtlichen Historismus.
Einer der bekanntesten Vertreter der Moderne, Le Corbusier, behauptete „Unsere Ingenieure leisten vernünftige und kraftvolle, konstruktive und zufriedenstellende, ausgeglichene und nützliche Arbeit“ wohingegen „unsere Architekten desillusioniert und arbeitslos sind, großspurig und mürrisch. Grund dafür ist, dass es für sie bald keine Arbeit mehr geben wird. Uns fehlt das Geld, um noch weitere historische Souvenirs zu errichten, doch alle Welt muss sich waschen!“ (Ausblick auf eine Architektur, 1923). Er verabscheute jede Form von Dekoration und forderte, dass die Häuser der Zukunft asketisch, sauber, nüchtern und spärlich eingerichtet sein sollten. Er reduzierte das Haus auf das unbedingt Notwendige.
Die beiden bekanntesten Mantren der Moderne waren: „Ein Haus muss nicht schön, sondern zweckmäßig sein“ (Le Corbusier) und „form follows function“ (Louis Henry Sullivan).
In dieser Zeit wurde der Mensch zurückgedrängt und die Funktion in den Vordergrund gesetzt. Der Funktionalismus war geboren.
Doch was bedeuten Funktionalismus und Zweckmäßigkeit?
Hauptsächlich wurden diese Anforderungen auf Proportions- und Formensprache, soziale Erfordernisse, Material und Konstruktion bezogen. Eine rein materialistisch erstarrte Architekturauffassung, die quantitativ messbar ist, beispielsweise dahingehend, wie kurz die Arbeitswege in einer Küche sind. Das ist zwar widerspruchslos notwendig, jedoch definiert es die beiden Begriffe Funktion und Zweck nicht in ihrer Vollständigkeit. Die Bezugnahme auf das Innere wurde scheinbar vergessen.
Funktion und Zweck liegen auch darin, Atmosphären des Wohlbefindens herzustellen.
Verlangen wir nicht selbst von fast jedem Gebäude, dass es uns nicht nur eine warme und trockene Unterkunft ist, sondern auch für eine besondere Stimmung sorgt? Dass wir Eindrücke aus der Welt der Moderne, der Macht, des Handels oder der Häuslichkeit erhalten? Dass u.a. Gefühle von Geborgenheit und Harmonie, Religiosität oder Erhabenheit in uns entstehen?
Im Grunde suchen wir doch zwei Dinge in unseren Gebäuden, zum einen sollen sie uns Schutz bieten, zum anderen sollen sie „zu uns sprechen“ (John Ruskin). Wir wollen mit und in ihnen etwas erleben.
Begreiflicherweise hat sich somit zeitgleich unter den Architekten eine kleine Gruppe gebildet, die für eine lebendige Baukunst eintraten, die das Ganzheitliche, das Wesenhafte im Bau bzw. das Geheimnis der Gestalt suchten. Unter Ihnen viele Vertreter der Organischen Architektur wie beispielsweise Frank Lloyd Wright, Hugo Häring, Hans Scharoun, Rudolf Steiner, Antonio Gaudi, Frei Otto, Alva Aalto, Santiago Calatrava und auch Louis Henry Sullivan. Genau dieser, der das Mantra „form follows function“ in die Welt gerufen hat. Allerdings ist „form follows function“ nur der kleine letzte Teil eines Satzes, den die rational, industriell orientierte Gesellschaft dem Kontext entrissen, und ihn auf das technisch funktionelle reduziert hat.
Im Ganzen heißt es: „Es ist das Gesetz aller organischen und anorganischen, aller physischen und metaphysischen, aller menschlichen und übermenschlichen Dinge, aller echten Manifestationen des Kopfes, des Herzens und der Seele, dass das Leben in seinem Ausdruck erkennbar ist, dass die Form immer der Funktion folgt.“
Wollten nicht damit die Architekten der Moderne in Wahrheit auch dass Gebäude zu uns sprechen? Selbst Le Corbusier schaffte mit seiner Kapelle Notre Dame du Haut de Ronchamp ein Zeugnis dessen. Mit diesem eher romantischen Bau durchbrach er seine katalogisierte Rationalität. Nicht nur seine Kritiker sondern auch seine Weggefährten waren irritiert und sprachen davon, dass er seine Prinzipien verraten habe.
Und doch ist Ronchamp ein Bespiel dafür, dass das wirklich Besondere in der Architektur nur dort entsteht, wo Ort und Gebäude eine Symbiose bilden.
Wenn das Atmosphärengefüge nicht von innen heraus wirkt und ausstrahlt, wenn das Gebäude nicht die Herzen der Menschen erreicht und sie öffnet, bleibt es lediglich eine Fassade, die vielleicht gerade noch bestaunt wird, aber an der die Menschen meist einfach nur vorbeigehen.
Das Herz entscheidet darüber was eine besondere, wesenhafte Architektur ist und ob ein Entfalten in ihren Räumen möglich ist. Das ist vergleichbar mit Musik. Nur Musik, die im Herzen berührt, wird als wirklich gut bezeichnet.
Kritiker entgegnen nun, dass dabei die Beurteilung von Architektur subjektiv bleibt. Das stimmt nur teilweise. Natürlich kann das gleiche Gebäude von dem einen als toll und von dem anderen als schlecht empfunden werden. Das liegt an der jeweiligen Verfassung des Betrachters ebenso wie an dessen Fähigkeit der Architekturbetrachtung. In den meisten Fällen wird jedoch die Herzenswahrnehmung mit Empathie oder dem Baugefühl verwechselt.
Eine Berührung im Herzen bedarf keine Formensprache und keiner Vorkenntnisse, nicht einmal eine Gemütslage.
Das Wesenhafte wirkt von Innen heraus. Wenn Musik berührt, braucht keiner Noten zu kennen. Hier ist der einzige Unterschied die Tiefe der Berührung. Je mehr das Herz erlaubt wird, sich zu öffnen, desto tiefer ist die Berührung.
Was geschieht, wenn Menschen Musik nicht „einlegen“, um sie zu hören, Architektur nicht anschauen, um sie zu spüren? Wenn die Herzen verschlossen bleiben, und kein Bewusstsein mehr für Wechselwirkungen vorhanden ist?
Schließe einmal die Augen und lass dein Bewusstsein durch den Raum gehen, in dem du dich jetzt befindest. Wie fühlt sich das an? Stehen deine Füße sicher auf dem Boden? Wie fühlt sich der Boden an? Wie erlebst du die Decke über dir? Bekommst du jeden Raum in deiner inneren Wahrnehmung? Wie geht es dir in dem Raum?
Mache dir ein möglichst vollständiges Bild.
Und nun lenke deine Aufmerksamkeit einen Moment zu deinem Atem. Atme ein- bis zweimal tief ein und aus. Lass dich von deinem Atem in dein Herz führen. Empfinde Liebe und Freude. Gehe in Kontakt mit der Liebe in deinem Herzen. Dehne diese Liebe in deinem ganzen Körper aus, von Kopf bis zu den Füßen. (Manchmal braucht es etwas Übung, doch mit Geduld geht alles). Jetzt lenke Dein Bewusstsein wieder zurück zu dem Raum in dem du dich befindest. Stell dir die gleichen Fragen: Wie fühlt sich das an? Stehen deine Füße sicher auf dem Boden? Wie fühlt sich der Boden an? Wie erlebst du die Decke über dir? Bekommst du jeden Raum in deiner inneren Wahrnehmung? Wie geht es dir in dem Raum?