Architektur als Spiegel der Gesellschaft


Gegenwärtige gesellschaftliche Prozesse scheinen vorwiegend von krisenhaften Entwicklungen, und den mit ihnen verbundenen Ängsten, geprägt zu sein. Keine Einzeldisziplin scheint den gegebenen komplexen und vielschichtigen Aufgabenstellungen in der Gesellschaft und der Wirtschaft gewachsen zu sein. Es mangelt an Analysemodellen und nachhaltigen, durchgreifenden Handlungsansätzen.

Gesellschaftliche Prozesse werden von der Architektur reflektiert.

Diese ist jedoch vielerorts zum Gegenstand des Unbehagens geworden. Auf der einen Seite werden Formen soweit determiniert, dass Architektur durch das ökonomische Denken u.a. des Bauträgertums in einer Massenproduktion endet, die den Eindruck des Beliebigen hinterlässt. Auf der anderen Seite ermöglichen algorithmische Geometrien und digitale Technik eine zuvor nie da gewesene Vielfalt von Gestaltungsmöglichkeiten, die dazu führen, dass Architektur in Form von Solitären als aufsehenerregende Brandingprodukte von Städten oder Unternehmen eingesetzt wird.

Da dies weltweit geschieht, verblasst diese forcierte Auffälligkeit der Solitäre, und führt nicht nur zu einer Homogenität der Städte, sondern ebenfalls zur Beliebigkeit. Beliebigkeit beurteilt weder Schönheit noch Hässlichkeit, sie ist schlichtweg das Gegenteil von architektonischer Qualität. Eine Beliebigkeit führt, um es mit den Worten des amerikanischen Soziologen Richard Sennett zu beschreiben, zu einer „Verarmung der Sinne, die das moderne Bauen wie ein Fluch zu verfolgen scheint“*.

Gesellschaft ohne Bezug zu ihren Sinnen.

In Reflexion auf die gesellschaftlichen Prozesse bedeutet dies, dass die Gesellschaft den Bezug zu ihren Sinnen verloren hat. Ihr Denken ist in einer Rationalität verankert, die emotionale und sinnliche Empfindungen abkoppelt bzw. den Menschen von diesen entfremdet.

Dass eine ausschließliche Orientierung auf den Intellekt nicht ausreicht, um der Komplexität der Welt zu begegnen, zeigen die Aufforderungen zur Integration von ästhetischen und metaphysischen Ansätzen seit es modernen Städtebau gibt.

Architektur kann nicht losgelöst vom Städtebau betrachtet werden,

denn ein einzelnes Gebäude definiert gleichzeitig Innen- und Außenräume, die es zusammen mit anderen Gebäuden bildet.

Camillo Sitte schaut in diesem Zusammenhang von einer reinen Geometrie auf das Gefühl: „Geradezu unbegreifliche Orte kommen vor, und doch muss man sich gestehen, dass wie beim David des Michelangelo, ein feines Gefühl dennoch die Wahl leitete, denn alles stimmt zum besten.“**

Bei der Beurteilung von Architektur spielt der Mensch als Nutzer oft keine große Rolle, selbst das Bauhaus setzt sich dem Vorwurf, den Menschen nicht zu berücksichtigen, aus; „ Nicht der Mensch, so fehlerhaft, charakterschwach, bequem und verschieden, wie er nun einmal ist, setzt hier das Maß. Sondern die Idee. Die Idee – und der Meister.“ *** Dabei ist die Mensch-Raum-Beziehung für eine Stadtgesellschaft existentiell.

Es zeigt sich, dass sich zum einen der Mensch in seiner Wahrnehmung zu Harmonie und Schönheit hingezogen fühlt, und zum anderen Orte und Räume, die diesen Kriterien nicht genügen, ungute Emotionen bis hin zu krankmachenden Wirkungen aufweisen.

In der Tendenz ist zu beobachten, dass Menschen ihre Intuition verlieren, Räume ihre Qualität verlieren, und Orte ihre Identität verlieren. Heute geht es um Wirtschaftlichkeit. Der Nutzer interessiert nicht, der Stadtbewohner schon gar nicht, denn der Investor ist weit weg. Er fordert Rendite. Es geht nicht mehr um Ressourcen, um Wertschätzung oder echter Nachhaltigkeit. Selbst nicht mehr um eine gute Funktionalität der Räumlichkeiten.

Es stellt sich die Frage wie diesem Trend entgegengewirkt werden kann.

Wir brauchen eine mündige Gesellschaft, die sich darüber empört, die aus ihrer Bequemlichkeit erwacht, mitbestimmen und mitgestalten will.

Es ist sehr erfreulich, dass sich bereits Gegenbewegungen gebildet haben. Leuchtturmprojekte, die es anders machen, für die Ökologie und Nachhaltigkeit wirklich wichtig sind. Bewegungen, die dagegenhalten und Architektur und Stadtraum lebendig und menschlich gestalten und ein Miteinander fördern. Baugruppenprojekte, die generationenübergreifend und genossenschaftlich angelegt sind.

Doch das darf und muss noch viel mehr werden. 

Wir brauchen echte Bürgerbeteiligung, nicht verstanden als nachträgliche Informationsplattform, sondern als eine partizipative Zusammenarbeit auf Augenhöhe. Wir brauchen Räume der Begegnung und des Austausches, in denen Bewusstsein für Raum, für Stadtraum und Architektur neu gebildet wird. Wir brauchen Prozesse der Nachhaltigkeit, die wirklich nachhaltig sind und in ihrer Gesamtheit betrachtet werden. Wir brauchen Entscheidungsstrukturen, die frei sind von Machtgehabe und Unwissenheit.

Schließlich gestalten wir durch unser Bauen unsere Welt. In welcher Welt wollen wir als Gesellschaft leben? Wir sollten dafür sorgen, dass das Spiegelbild wieder menschlicher und besser wird.

Wenn du Lust hast mitzudiskutieren über Menschlichkeit in unserer Gesellschaft, dann fühle dich eingeladen zu den Society Talks oder den Deep Talks von GesellschaftSEIN.


  • * Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin Verlag 1995
  • ** Camillo Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Birkhäuser 2001
  • *** Die Zeit, Ausgabe 30 vom 16.07.2009
  • Fotocredits: by Rikki Chan on unsplash

 


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